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Uncovered
Wie eine mutige Journalistin Stück für Stück zurück ins öffentliche Bewusstsein rückt
Eigentlich ist es der Albtraum einer Undercover-Reporterin: enttarnt zu werden. Noch schlimmer ist nur: nie von ihr gehört zu haben. Wenn Ihnen der Name Paula Schlier jetzt etwas sagt, dann, weil in den letzten Jahren viel Erinnerungsarbeit geleistet wurde.
Viel zu lange war sie vergessen. Dabei ist Paula Schlier eine Ausnahmeerscheinung. Eine Kettensprengerin. Hier aus der Region. In Neuburg ist sie geboren, in Ingolstadt hat sie einige Jahre gelebt, ehe sie nach München zog und heimlich aus der Propaganda-Maschinerie der Nationalsozialisten berichtete. Seit wenigen Jahren wird sie nun enttarnt, im positiven Sinne.
Doch der Reihe nach. „Um mir das Licht der Welt, das ich erblickt habe, deutlich zu machen, wird es nicht nötig sein, daß ich auf die Zeit zurückgreife, da ich Säugling war. Sondern ich werde dort beginnen, wo ich zu schreien und mich zu wehren anfing. Und das war 1916, als ich mit siebzehn* Jahren Kriegspflegerin wurde“, schreibt Paula Schlier in ihrem autobiografischen Roman Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit. Sie meldete sich freiwillig. Zu jung eigentlich. Doch alle glaubten, sie sei bereits 18. Und sie ließ sie in diesem Glauben. Wir befinden uns mitten im Ersten Weltkrieg. Die unvorstellbaren Gräuel, die sie als Hilfsschwester in den kommenden vier Jahren im Ingolstädter Lazarett miterleben sollte, machten sie zur entschiedenen Kriegsgegnerin.
"Das Lazarett, in dem ich pflegte, von den Soldaten "der Zirkus" genannt, nahm Tausende von Verwundeten auf, die zu Anfang des Krieges auf Strohlagern, später auf eisernen Bettgestellen in langen Viererreihen untergebracht wurden. Im letzten Leichtverwundetensaal spielte jeden Nachmittag Militärmusik, bei Siegen mit verstärktem Orchester. Im großen Saal weinten die Schwerkranken vor Nervosität und baten um Watte zur Verstopfung ihrer Ohren." *Ein Foto aus dem Nachlass zeigt, dass sie bereits zum Jahreswechsel 1915/1916 Hilfskrankenschwester war - und damit sogar erst 16
Aus "Petras Aufzeichnungen"
*Ein Foto aus dem Nachlass zeigt, dass sie bereits zum Jahreswechsel 1915/1916 Hilfskrankenschwester war – und damit sogar erst 16
Vielleicht waren es ihre Erfahrungen im Lazarett, die ihr feines Gespür schärften. Früh durchschaute sie die Gefahr, die von den Nationalsozialisten ausging. 1921 zog sie nach München, arbeitete in Verlagen und veröffentlichte zwei Jahre später erste kritische Artikel. Ihr größter Coup gelang 1923: Mit nur 24 Jahren heuerte sie als Stenotypistin beim Völkischen Beobachter, dem Kampfblatt der NSDAP, an. Nicht aus Überzeugung, sondern um heimlich Einblicke in die Propaganda-Maschinerie zu gewinnen. Als junge Frau unterschätzt, riskierte sie ihr Leben und wurde zu einer der ersten investigativen Journalistinnen überhaupt. Den Hitlerputsch erlebte sie aus der Redaktion heraus. Ihre Beobachtungen veröffentlichte sie später in Petras Aufzeichnungen. Darin schrieb sie: „Ich sah diese kleinen, gestikulierenden Leute, und mir widerstrebte die Leichtfertigkeit, mit der sie das Spiel bereits gewonnen glaubten. Ich wußte, daß vom Bürgerbräukeller aus keine Revolution zu machen sei … Zugleich aber war in mir eine große Angst, es werde nun die nationalsozialistische Armee in Bewegung gesetzt werden, um gegen den Norden, gegen die Sozialisten, gegen die Menschen der anderen Überzeugung vorzugehen.“
Ihr großer Coup wird in einigen Zeitungen gefeiert, nur in einer kommt ihre Undercoverstory – wenig überraschend – nicht besonders gut an. In einer „Rezension“ im Völkischen Beobachter heißt es: „Ihr Vater ist Arzt, wenn ich nicht irre; er muß sich Ihrer annehmen. Ich glaube, es liegt bei Ihnen ein Fall von Psychopathie Sexualis vor. Das lässt sich bekanntlich am besten durch einen Mann beheben …“.
Einige Jahre später, 1942, der 2. Weltkrieg war bereits in vollem Gange, wurde Paula Schlier von der Gestapo verhaftet. Ihr katholischer Beichtvater hatte sie verraten. Er gab Briefe weiter, die sie ihm schickte. Fast wäre Paula Schlier im KZ Dachau gelandet. Ein befreundeter Arzt bewahrte sie davor, bescheinigte ihr „religiösen Wahn“. Schlier kam somit in die Psychiatrie Eglfing-Haar. Noch im selben Jahr wurde sie entlassen und tauchte bis zum Ende des Kriegs unter. Nach der Befreiung arbeitete sie weiter als Schriftstellerin und pflegte ihre Mutter. 1977 starb sie in Bad Heilbrunn. Dann war es lange still um sie. Auch in Neuburg und Ingolstadt, ihrer Heimat.
Heutzutage tritt Paula Schlier langsam wieder ins Licht: durch einen Dokumentarfilm, einen Podcast, eine Ausstellung im Ingolstädter Rathaus – und seit kurzem auch durch eine große Wandmalerei in Neuburg. In einer nach ihr benannten Straße. Künstlerin Elisabeth Waltinger und ihre Tochter Magdalena haben sie auf einem Trafohäuschen verewigt. „Ich fand es schade, dass sie keiner kennt“, sagt Elisabeth Waltinger, sie ist Teil des Neuburger Brückenkollektivs. Sie selbst wurde auf Schlier durch einen VHS-Vortrag aufmerksam, den sie zusammen mit ihrem Vater besuchte. Neben dem Bildnis von Paula Schlier steht ein Zitat. Darin heißt es sinngemäß: Die Demokratie gibt dem Menschen Verantwortung. Dieses Zitat nahm sich die Künstlerin zum Vorbild. „Ich selbst habe mir auch gedacht: Warum macht da niemand was? Warum wird keine Schule nach ihr benannt? Aber wie der Spruch erklärt: Jeder ist selbst verantwortlich. Und wenn ich was ändern will, muss ich es selbst tun. Das will ich auch meiner Tochter mitgeben. Wenn man eine Ungerechtigkeit sieht, muss man sich dem mit seiner eigenen Sprache annehmen. Das kann Musik sein, das kann das Schreiben sein – bei uns ist es eben das Malen.“ Gesagt, getan. „Sie war eine krasse Frau. In der Schule haben wir nichts von ihr gelernt. Ich war ganz erstaunt, dass sie aus Neuburg kommt“, sagt Tochter Magdalena. Im Oktober beginnt sie ihr Studium der Kunstgeschichte in Regensburg.
» Ich schaue den Vögeln in der Luft nach, wie sie mit dem Winde fliegen und nie gegen den Wind ankämpfen, und wie sie die Flügel kaum gebrauchen müssen, wenn sie sich vom Winde tragen lassen. «
Aus dem Vorwort von "Petras Aufzeichnungen"
Paula Schlier war unbequem, mutig, eine Kämpferin gegen Konventionen. Sie wehrte sich gegen stumpfe Rollenbilder und trat kompromisslos für ihre Überzeugungen ein. „Als Mädchen durfte sie nicht aufs Gymnasium und nicht studieren. Ich finde es toll, dass sie nicht geheiratet hat und mit Anfang 20 nach München ging, wo sie alleine für sich sorgen musste“, sagt Elisabeth Waltinger. Schlier heiratete erst mit 60. „Ich denke, sie war hochintelligent, sehr einfühlsam und sehr an ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen interessiert. Ihr Schicksal in Haar passt auch in die Zeit: Frauen, die nicht so funktionierten, wie sie sollten, wurden entsorgt. Ich finde, sie ist ein gutes Vorbild, auch für unsere Jugend.“ Paula Schlier war eine der ersten Frauen, wenn nicht die erste, die über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz schrieb.
In einer Woche im Hochsommer entstand das Bild in der Paula-Schlier-Straße. „Das Schöne sind die Räume, die entstehen“, sagt Elisabeth Waltinger. „Die Leute kommen vorbei, stellen Fragen. Es entstehen Gespräche.“ Und wer heute an ihrem Bild vorbeigeht, googelt vielleicht ihren Namen – und entdeckt eine Frau, die viel zu lange im Schatten stand.
Mehr von und über Paula Schlier
- Dokumentarfilm „Hitlerputsch 1923: Das Tagebuch der Paula Schlier.“ ARD Mediathek (verfügbar bis 7.11.2025)
- 3-teiliger Podcast von Paula Lochte: „Paula sucht Paula“ in der Reihe „Alles Geschichte – History von radioWissen“ von Bayern 2
- Podcast 11 km, Folge: Undercover in der Hitler-Redaktion
- Buch | Paula Schlier: Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit

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