Anruf aus dem Altenheim

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Anruf aus dem Altenheim

Wie oft werden Sie von fremden Menschen unter Tränen angerufen? An einem Tag im September kam es bei mir dazu. 50 Minuten. Wir haben zusammen geweint. Ein bisschen gelacht. Und ich habe sie nicht vergessen. Ihr Appell: „Frau Herker, Sie müssen darüber schreiben.“

VON STEFANIE HERKER

Elfi – so nenne ich sie hier – ist 85 Jahre alt. Ihr Leben lang war sie eine selbstständige Frau. Mitte dreißig wurde sie geschieden, allein zog sie ihre Kinder groß, später kamen Enkel dazu. Sie arbeitete, pflegte ihr Haus, ihren Garten in Reichertshofen, wo sie fast 80 Jahre lang lebte. Ihr Kopf ist wach, ihre Erinnerungen klar. Nur wenn sie von ihrem jetzigen Leben spricht, klingt sie mutlos. Seit drei Jahren lebt sie in einem Altenheim in Ingolstadt – ihrem dritten Heim. „Drei Mal habe ich gehofft, dass es besser wird“, sagt sie, doch „es fehlt einfach überall.“

Zu wenige Pfleger:innen, der Tagesrhythmus ein Takt aus Aufstehen, Warten, Schweigen, Hinlegen. „Wir zahlen 2600 Euro im Monat. Für was?“, fragt sie. Ihre Stimme zittert, nicht aus Schwäche, sondern aus Wut und Traurigkeit. Und doch: Auf das Personal vor Ort will sie nichts kommen lassen. „Die geben, was sie können. Aber sie sind selbst am Limit. Man kann nicht schimpfen, wenn keiner mehr Zeit hat, sich überhaupt hinzusetzen.“

Was sie am meisten bedrückt, ist die Leere. Die Menschen hier wandeln umher wie Schatten. Viele sind nicht mehr bei klarem Verstand. „Ich schon. Und gerade das ist das Schlimmste – ich sehe und spüre alles. Ich weiß, wie sehr es an allem fehlt.“ Aber keiner hört hin. „Wissen Sie, ich bin zur Wahrheit erzogen worden. Ich muss die Tatsachen einfach benennen. Niemand von meinen Kindern oder hier im Heim will hören, wie wir uns fühlen, dass es uns traurig macht, wie wir hier leben.“

„Die Menschen hier sind abgestumpft, sie nehmen es hin, wie es ist.“

Elfi zieht eine Linie von früher nach heute: „Ich würde behaupten, dass wir trotz Krieg eine bessere Gemeinschaft hatten damals. Früher hat die ganze Straße zusammengehalten. Wenn man ein Ei brauchte oder Hilfe, ging man zum Nachbarn. Heute ist vieles anonym, Menschlichkeit fehlt manchmal. Das macht mir große Sorgen. Die Gier und die Macht der Menschen war schon immer ein Problem. Aber heutzutage hat jeder alles, man braucht den anderen nicht mehr. Das schwächt uns als Gesellschaft.“

Dann lacht sie kurz: „Trotz Krieg, wir hatten keine Angst. Wir hatten ja unsere Eltern.“ Ihr Papa war Schmied bei der Bahn. Von ihrer Mama weiß sie, diese war bereits als Kind auf einem Bauernhof als Magd, später als Köchin beschäftigt. „Sie hatte Kraft – mental und körperlich. Sie wurde 96 Jahre alt, und ich habe sie zehn Jahre lang gepflegt. Meine Mama war ein Diamant. Eine Frau, die nie klagte, die uns immer mit Wärme und Essen versorgte, selbst wenn es kaum etwas gab. Von ihr habe ich gelernt, was Zusammenhalt bedeutet – und dass man die Wahrheit aussprechen muss, auch wenn es weh tut.“

Es sei eine arme, aber für sie auch schöne Zeit gewesen. „Ich würde sagen, wir waren mindestens genauso glücklich und zufrieden wie die Kinder heutzutage – obwohl wir nichts hatten.“ Ich frage sie, ob sie meinen Besuch möchte oder wie ich ihr helfen kann. „Sie können mir nicht helfen“, sagt sie. Aber sie bittet mich, darüber zu schreiben. „Es ist eine Schande, wie mit uns umgegangen wird“, mahnt sie.

Und sie hat Recht. Es ist eine Schande – für ein Land wie Deutschland, für ein politisches System, das seit Jahren zuschaut, wie die Strukturen zerfallen. Es ist die Generation, die nach dem Krieg Trümmer weggeräumt, Felder bestellt, Fabriken am Laufen gehalten, Kinder großgezogen hat. Sie haben geschuftet, eingezahlt, vertraut – auf das Versprechen, im Alter nicht vergessen zu werden. Doch heute sitzen viele von ihnen in Altenheimen, in denen das Personal kaum noch Zeit hat, ein Gespräch zu führen oder eine Hand zu halten. Der Pflegenotstand ist längst zur Dauerkrise geworden. Pflegekräfte arbeiten am Limit, Betreuung wird auf Minutenpläne reduziert, und die Würde alter Menschen bleibt auf der Strecke. Währenddessen genehmigt die Politik hunderte Millionen Euro für einen Kanzlerbau mit Hubschrauberlandeplatz und Pipapo. Für Prestige ist Geld da – für Menschlichkeit nicht. Doch was fehlt, ist nicht nur Geld, sondern Verständnis, dass Pflege nicht einfach als Kostenfaktor abgetan werden darf, sondern eine zentrale öffentliche Aufgabe ist. Was fehlt, ist Fantasie – Mut zu neuen Ideen. Warum nicht endlich Modelle fördern, die Gemeinschaft und Nähe stärken? Warum nicht Pflegeberufe so aufwerten und entgelten, dass junge Menschen sie mit Stolz ergreifen, statt ihnen auszuweichen?

Und wenn über eine Rückkehr der Wehrpflicht diskutiert wird, warum dann nicht stattdessen ein verpflichtendes soziales Jahr für alle jungen Menschen? Nicht als billige Lückenfüller, sondern als gesellschaftliches Bekenntnis: Solidarität ist wichtiger als Kasernen. Nähe und Verbundenheit sind ein Weg zu einer friedlichen Gemeinschaft.

Ein Land, das Milliarden in Beton gießt, sollte auch den Mut haben, Milliarden in Menschlichkeit zu investieren. Die Politik spricht gern von „Würde im Alter“. Elfi lebt die Realität.

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