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"Bist du vom rechten Wege abgekommen?"
Finanzminister Christian Lindner zu Besuch in Ingolstadt
Christian Lindner wurde gecancelt. Nein, nicht im aktuell zu verstehenden Sinne. Im März 2020 wartete man in Ingolstadt schon einmal auf den FDP-Chef. Doch die Anfangsphase der Corona-Pandemie machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Wenige Stunden vor seinem Auftritt entschied man bei den Freien Demokraten: Sicherheit geht vor, die Veranstaltung soll kein Öl ins anfängliche Pandemiefeuer gießen. Da war das Corona-Canceln von Veranstaltungen noch ein Novum, die wartenden Gäste dementsprechend verstimmt. Donnerstag, 14. September 2023, neuer Versuch. Diesmal ist Christian Lindner da, live und in Farbe.
Für die bayerische FDP um Spitzenkandidat Martin Hagen wird es eng. In wenigen Wochen ist Landtagswahl und die FDP Bayern steht in der aktuellsten Wahlumfrage bei 4 Prozent. Zuletzt erreichte die Partei bei Umfragen die für den Einzug ins Landesparlament so wichtige 5-Prozent-Hürde im Juli. Schon bei der Wahl 2018 wurden die Sitzplätze im Maximilianeum mit 5,1 % denkbar knapp gebucht. Auch für Landtagskandidat Jakob Schäuble, der als Erster auf die große Bühne trat, gibt es „Schöneres“, wie er unumwunden zugibt. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. „Wahnsinnig viele Leute sind noch unentschlossen“, sagt er. Ungenutztes Potenzial also, das die FDP doch noch über die 5 Prozent hieven könnte.
Die FDP steht – wie alle anderen Parteien auch – vor einem Dilemma. Man kennt die Probleme – und die Lösungen dazu. Wären da nur nicht die anderen Parteien, die in Regierungskoalitionen auch irgendwie mitwurschteln wollen. Dass Finanzminister Lindner und Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) abseits der anfänglichen Selfie-Vertrautheit nicht mehr die dicksten Freunde sind, ist bekannt. Auch Schäuble ist nicht gut auf den Wirtschaftsminister zu sprechen, bescheinigt ihm eine „verheerende Bilanz“, was er u.a. an mangelnder Stromtrasseninfrastruktur, mangelnden großen Innovationsinitiativen und mangelnder Unterstützung für mittelständische Unternehmen festmacht. „Das wollen wir ändern“, sagt er.
Aus München angereist kam Susanne Seehofer („Geben Sie Ihr Kreuz einer Ingolstädterin!“). Mitgebracht hat sie ihre Boxhandschuhe (im übertragenen Sinne) – aber es ist ja auch Wahlkampf. Am Hashtag #söderisst hat sie quasi einen Narren gefressen. Der Ministerpräsident solle es doch lieber mal mit dem Hashtag #söderliefert probieren, schlägt Seehofer vor: „Markus Söder packt die wahren Probleme gar nicht an.“ Diese verortet die Liberale u.a. beim Fachkräftemangel und den Mieten. Stattdessen zeige Söder lieber auf die Ampel. Hubert Aiwanger bekam ebenso sein Fett weg. Laut Seehofer „ein wandelndes Wohlstandsrisiko“. „Wir brauchen eine innovative Politik der Mitte“, sagt die Landtagskandidatin. Mehr über Susanne Seehofers politische Überzeugungen erfahren Sie im espresso-Interview.
Nach der schlagkräftigen Seehofer-Rede trat der bayerische FDP-Spitzenkandidat Martin Hagen ans Mikrofon. „Wir mögen Menschen, die eigene Entscheidungen treffen“, sagt er und genau diese Menschen verortet er natürlich gerade auf dem Rathausplatz. Nach der Seehofer-Peitsche das Hagen-Zuckerbrot aus Schmeicheleien. Denn: „40 Prozent der Wähler sind noch unentschlossen.“ Und: „Es geht um die Zukunft Bayerns.“ Aber: „Wir sind keine Untergangspropheten.“ Stattdessen findet man bei der FDP Optimisten. Trotz der großen Herausforderungen, wie Hagen erklärt.
Einen „alles regelnden Staat“ wolle man bei der FDP nicht, man setze u.a. auf Fleiß, Engagement und Tatkraft eines jeden Einzelnen, so Hagen. Dadurch könne Potenzial entfesselt werden. Quasi die Grundüberzeugung der FDP. Einen wichtigen Punkt macht Hagen, als er von seinen Erfahrungen aus Treffen mit Unternehmern spricht. Gendersprache und Fleischkonsum spielten da keine Rolle, sagt er, stattdessen seien es der Fachkräftemangel und die Energiepreise.
Dennoch machen Politiker*innen mit Aufreger-Themen rund um angebliche Genderpflicht und angebliches Fleischverbot nur allzu gerne Wahlkampf.
Hagen kam zum Schluss nochmal auf die Pandemie zu sprechen. Die FDP sei dabei eine Partei gewesen, „die einen kühlen Kopf bewahrt“. Man habe Maßnahmen nicht pauschal abgelehnt, aber bei jeder einzelnen geschaut, ob sie verhältnismäßig ist. Kurz: Eine Partei, die auch „in der Krise die Grundrechte verteidigt“.
Dann aber endlich der Auftritt von dem Mann, auf den hier alle gewartet haben: Christian Lindner: „Grüß Gott, Ingolstadt“. Als Eisbrecher beginnt er mit einem Scherz. Wenn ihn seine Frau am Abend frage, wo er heute gewesen sei, könne er von seinem Auftritt in Ingolstadt erzählen. „Vor mir haben Schäuble und Seehofer gesprochen“, würde er dann sagen, woraufhin sein Frau entgegnen würde: „Bist du vom rechten Wege abgekommen?“ Linders Frau ist übrigens Chefreporterin beim Nachrichtensender Welt.
Nach Hagen-Zuckerbrot nun auch Lindner-Zuckerbrot – natürlich den eigenen Reihen vorbehalten. Zu Schäuble: „Unsere Demokratie wäre ärmer ohne Sie“. Über Seehofer: „Kandidiert nicht, weil sie etwas werden will. Sie ist schon wer.“ Über Hagen: „Schlägt kein Kapital aus Krisen.“
Nach dem lockeren Einstieg die schweren Themen. Natürlich macht der Finanzminister ausführlich seinen wirtschaftspolitischen Überzeugungen Luft („Wir brauchen eine Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik“), er räumt aber auch dem Ukraine-Krieg einige Redezeit ein. Der Angriff Putins auf die Ukraine sei ein Völkerrechtsbruch gewesen, der unermessliches Leid hervorgebracht habe. Und: Der Krieg halte davon ab, die großen Menschheitsaufgaben anzugehen. Verteidigungspolitisch zieht Lindner daraus folgenden Schluss: „Man muss kämpfen können, damit man nicht kämpfen muss.“
Bundespolitischen Streit gibt es seit längerem um die Schuldenbremse, die verteidigt Lindner aus Überzeugung, „nicht weil es mein Fetisch ist oder ich ein Nein-Sager bin“. Zusätzliche Schulden könne man sich wegen der steigenden Zinsen einfach nicht mehr leisten. Das bedeute aber zeitgleich „keine Bremse für Investitionen“. Auch bei einem weiteren Streitthema, der Kindergrundsicherung, ist es Lindner offenbar wichtig festzustellen, dass er „kein Kinderhasser“ ist. Armut überwinde man laut dem Finanzminister in erster Linie durch Arbeit, nicht durch mehr Sozialleistungen.
Ein paar markige Sprüche hat auch Lindner im Gepäck: „Söder umarmt Bäume und hat gleichzeitig die Motorsäge in der Hand.“ Außerdem macht sich Lindner für E-Fuels stark, kritisiert die überbordende Bürokratie und erntet viel Applaus mit einem Kommentar, dass doch jeder selbst entscheiden möge, ob er eine Wärmepumpe möchte oder nicht. Er selbst hat eine.
Zum Schluss gibt es Schelte für die AfD. Die guten Teile aus deren Wahlprogramm fände man auch bei vielen anderen Parteien, so Lindner. Daher lohne sich ein Blick darauf, was man nur bei der AfD findet. „Raus aus der NATO, raus aus der EU.“ Das würde nicht nur zu politischer Isolation führen, sondern das Land auch „wirtschaftlich ruinieren.“ Viel schlimmer, als es beim BREXIT der Fall sei.
Kurz darauf verlässt Lindner die Bühne, viele junge Menschen strömen nach vorne und wollen ein Foto mit dem Bundesminister. Kein Problem für Lindner, der bereitwillig in jede Kamera lächelt.
Ein letztes Dilemma aber bleibt: Der FDP-Wahlslogan „Servus Zukunft“. Darauf wurde der Autor dieser Zeilen vor einigen Wochen hingewiesen. Servus ist ja bekanntlich nicht nur eine Grußformel, sondern auch eine zum Abschied. In wenigen Wochen entscheidet sich für die Bayern FDP also, ob es Servus Landtag heißt, oder doch eher Servus Landtag.
PS: Es gibt ein sehr amüsant zu lesendes Portrait von ZEIT-Journalistin Anna Mayr über Christian Lindner für alle, die ihn mal (nicht) kennenlernen wollen.
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