Der Magische Handschuh

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Der Magische Handschuh

Vom blauen Passagier 04/100 zum farbenfrohen Kunstwerk: Foto des "Magischen Handschuhs" von "Mama" bevor (...) - lesen Sie selbst!

Eine Geschichte über Alltagszauber und Zusammenhalt

Es war einmal ein kleiner Handschuh, gerade so groß, dass er auf eine zarte Hand passte. Blau, leicht bewölkt, wie der Himmel nach einem Sommerregen. Einer von vielen.

VON STEFANIE HERKER

Eine Künstlerin – sie hieß Frau Schleifenheimer – hatte einhundert Handvoll blaue Passagiere in die Welt geschickt. Jeder sollte reisen, von Hand zu Hand gehen, Geschichten sammeln und Bilder zurückbringen. Viele von ihnen erlebten große Abenteuer: Einer wanderte durch China, einer lag auf den Vulkanfelsen von Lanzarote, einer schaffte es in die USA, ein anderer war dem Papst in Rom nah. Die Handschuhe eiferten um die Wette, wer am weitesten reisen würde, wer vom ungewöhnlichsten Ort erzählen könnte.

Nur der Handschuh mit der Nummer 04/100 war anders. Er träumte nicht von Orten, sondern von echten Begegnungen, von Berührungen, von Liebe und Freundschaft, von Kinderlachen und Emotionen. Doch ausgerechnet er – schien vergessen. Er lag in diesem einen Kuvert, in einer Schublade, in einer Ecke eines Hauses. Tage. Wochen. Monate. Er vergaß irgendwann seine Träume und seinen Mut und wurde von Tag zu Tag trauriger und blasser.

Vorher: Einer der 500 "blauen Passagiere", die die Künstlerin Petra Annemarie Schleifenheimer seit 2016 in die Welt hinaus schickt, erreichte uns vor einigen Wochen mit der Bitte, ihn für ihr Langzeitprojekt in Szene zu setzen.

„Warum hat man mich vergessen? War ich nicht gut genug?“, fragte er sich selbst nach all den langen Wochen in Dunkelheit und weinte. Da knisterte etwas am Kuvert. Es war eine kleine Maus. „Ich hörte dich hier schluchzen, da konnte ich nicht weghören“, sagte sie. „Komm raus da“, forderte sie den Handschuh auf. „Aber wie soll ich denn hier raus, ich kann doch gar nicht laufen“, sagte der Handschuh. „Wenn wir zusammenhelfen“, sagte die Maus, „klappt es.“ Sie nagte das Kuvert auf, drückte gegen die Schublade und kroch unter den Handschuh. Und so trug sie ihn bis ins Kinderzimmer. „Danke! Warum hast du das für mich getan?“, fragte der Handschuh die Maus. „Ach, weißt du, wir leben alle in diesem einen Haus. Warum sollte ich weghören, wenn du weinst. Ich weiß nicht, was es da draußen noch alles so gibt, aber wir haben doch nur dieses Haus, was uns verbindet. Wir sollten zusammenhelfen, wo wir können. Und jetzt bist du dran – verzeih ihnen, dass sie dich vergessen haben, mach die Menschen hier glücklich, dann wirst du es auch. Ich weiß, dass du ein besonderer Handschuh bist, denn in meinem Mauseleben habe ich noch nie einen Handschuh weinen gehört. Finde deine wahre Bestimmung.“ Und die Maus kroch zurück in ihr Mauseloch.
„Meine wahre Bestimmung..?!“, murmelte der Handschuh. Bereits ein wenig glücklich durch die Taten und Worte der Maus leuchtete er in verschiedenen Blautönen auf, während er auf dem Kissen von Aurelia, dem Mädchen, das hier wohnte, lag. „Endlich nicht mehr allein“, dachte er sich.

Nachher

Am Morgen wachte Aurelia auf, rieb sich die Augen – und erschrak. „Ein Handschuh? Hier? Wie bist du denn hierher gekommen?“ Sie nahm ihn neugierig in die Hand. Und der Handschuh wusste: Jetzt beginnt meine Reise.

Der Handschuh war weich und geschmeidig, also zog Aurelia ihn an. Während ihr Bruder Tommy noch schlief, streichelte sie ihm mit dem Handschuh durch sein blondes Haar. Der Handschuh lachte innerlich vor Freude, weil er endlich gebraucht wurde. Er glühte einmal auf und färbte sich an einer kleinen Stelle rot, die zunächst noch niemand bemerkte.

Am Nachmittag hatte Tommy die Idee, im Garten zu helfen. Er zog den blauen Handschuh über seine kleinen Finger. Er sah das Rot, zuckte mit den Schultern und dachte: „Marmelade.“ Tommy grub in der Erde und der Handschuh spürte die Lebendigkeit der Pflanzen, roch den Duft des Bodens, hörte die Käfer arbeiten. Der Handschuh fühlte die Kraft des Wachstums. Und da geschah es: Der Handschuh wurde nicht nur braun vom Buddeln, er färbte sich grün – die Farbe der Hoffnung und des Lebens.
Tommy und Aurelia staunten. Sie wollten den Trick sofort ihren Freunden zeigen und liefen schnell zum Spielplatz. Da war Vicky, ein Kind aus der Nachbarschaft. „Schau mal Vicky, wir haben einen Zauberhandschuh gefunden!“, schrie Aurelia schon von der Ferne. „Probier es aus, Vicky!“ Sie zog ihn über und schaute mit großen Augen, was passieren würde. Der Handschuh spürte die Freude, das Herzklopfen, den kindlichen Optimismus.

Und da geschah es wieder: Der Handschuh färbte sich neben all den anderen Farben nun auch gelb. Vor Schreck warf Vicky den Handschuh auf den Boden. Eine alte Frau, die mit ihrem Enkelkind auf dem Spielplatz war, hob ihn auf. Ihre Hände waren runzelig, ihre Augen voller Geschichten. Sie drückte ihn an ihr Herz und flüsterte: „Der ist so schön bunt. Mein Mann liebte Regenbögen.“ Eine Träne fiel auf den Stoff.
Der Handschuh glänzte. Ein paar Fasern von ihm blitzten für einen Moment lang golden auf. Der Handschuh bebte vor Stolz.

„Das müssen wir Unai zeigen!“, schrie Tommy und die Kinder liefen ein Haus weiter. Unai rollte in seinem mit Stickern beklebten Rollstuhl gerade die Rampe am Hauseingang herunter. „Hey, was geht bei euch denn ab? Ihr strahlt ja über beide Ohren!“, lachte Unai. „Du wirst es nicht glauben“, sagte Tommy und legte den Handschuh auf Unais Schoß. „Ich bin gespannt, welche Farbe der Handschuh jetzt annehmen wird“, sagte Aurelia. „Orange!“, schreit Tommy. „Wow, ich bin ein genialer Zauberer!“, schreit Unai. Da kommt Mama. „Was habt ihr denn da für einen tollen Handschuh gefunden?“, fragte sie und Aurelia erzählte, was geschehen war. Die Kinder waren außer sich. „Das klingt nach Magie“, sagte Mama und sogleich durchzog den Handschuh ein kräftiges Violett, als Mama ihn berührte. „Darf ich ein Foto von dir machen, kleiner Handschuh?“, fragte Mama. Der Handschuh wurde fast verlegen vor Glück und schimmerte Rosa-Rot.

Künstlerin Petra Annemarie Schleifenheimer schickte uns den Blauen Passagier in die Redaktion (Fotos, 2: Thomas Scherer)

Mama setzte den Handschuh Zuhause schön in Szene. Die Farben explodierten geradezu, da schoss es wie ein Geistesblitz durch Mamas Kopf. „Das Kuvert von Frau Schleifenheimer! Meine Güte, ich hab es kurz geöffnet, wieder geschlossen und für später beiseite gelegt“, erinnerte sie sich. Sie durchwühlte eifrig die Schubläden und sah das aufgenagte Kuvert. Leer. Der „blaue Passagier“ – wie ihn die Künstlerin nannte – war verschwunden.

„Das kann doch nicht..“, murmelte Mama. 
„Mama, wir brauchen den Handschuh jetzt wieder zum Spielen“, forderte Tommy. Zack – und schon war er damit im Baumhaus. „Jeder darf ihn immer eine Minute lang halten“, schlug Aurelia vor.
Dann hielten sie ihn gemeinsam, gut behütet wie einen Schatz. Die Farben flossen ineinander über, sie leuchteten hell. Der Handschuh wurde warm, funkelte und löste sich von den Kindern. Er flog glücklich durch den kleinen Raum wie ein fröhlicher Schmetterling. Die Kinder staunten. Der Handschuh hatte nun seine Bestimmung gefunden. Er strich den Kleinen noch einmal durch das Haar und flog dann durch das Fenster in Richtung Himmel.

Da klopfte es ans Baumhaus. Es war Opa. Die Kinder überschlugen sich mit ihren Erzählungen und Opa staunte. „Schaut mal, da ist ein Regenbogen am Himmel. So einen schönen hab ich noch nie gesehen“, sagte er. Die Kinder wussten es: Der Handschuh wurde zum Regenbogen. „Das ist unser magischer Handschuh da oben!“, schrie Tommy. Und der „blaue Passagier“, der zum „bunten Passagier“ wurde, kehrte bei Regen und Sonne immer wieder zurück an die gleiche Stelle – über das Baumhaus von Aurelia und Tommy.

Und wenn heute ein Regenbogen am Himmel erscheint, erzählt man sich, dass der magische Handschuh dort seine bunten Finger ausstreckt, um uns zuzuwinken und uns zu erinnern, dass wir bunt durch Begegnungen werden. Jede Hand schenkt uns eine Farbe. Und nur gemeinsam leuchten wir wie ein Regenbogen.

Der Blaue Passagier – Ein Kunst-Projekt von Petra Annemarie Schleifenheimer

Ein blauer Handschuh, unscheinbar und doch voller Bedeutung. Seit 2016 schickt Petra Annemarie Schleifenheimer ihre „Blauen Passagiere“ hinaus in die Welt. Rund 500 Exemplare sind inzwischen unterwegs – und sie erzählen Geschichten von Begegnungen, Zufällen und Reiserouten. „Es beginnt mit der einfachen Geste, einen Handschuh blau einzufärben und ihn auf Reisen zu schicken“, erklärt die Künstlerin. Ab diesem Moment, sagt sie, sei alles offen: „Von dort an erzählen die Passagiere von ihren Erlebnissen, Begegnungen und den Orten, an die sie gelangen.“

Dass diese Idee Menschen begeistert, zeigen die Fotos, die Schleifenheimer erreichen: Ein Passagier reist derzeit quer durch China, ein anderer erkundete Lanzarote, ein weiterer machte Station in Chemnitz – ausgerechnet in der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas. Oft werden die Handschuhe sogar weitergereicht und setzen ihre Reise in unbekannte Richtungen fort.

Der Blaue Passagier ist kein abgeschlossenes Kunstwerk, sondern eine Einladung. „Meine Arbeit ist bewusst offen gedacht – ein gemeinschaftliches künstlerisches Projekt, das durch das Publikum lebendig wird.“ Hinter der spielerischen Geste stehen Fragen nach Sichtbarkeit, Spurensicherung und kollektiver Autorenschaft im öffentlichen Raum. So entsteht ein „work in progress“, das sich durch das Engagement vieler Beteiligter immer weiterentwickelt. Zuletzt konnten Besucher:innen im SanDepot in Aichach sowie in Schleifenheimers Ausstellung im kultur.lokal.fürth selbst Exemplare mitnehmen – und so neue Reisen anstoßen. Parallel arbeitet die Künstlerin daran, die wachsende Sammlung an Einsendungen auf ihrer Website www.pas-kunst.de sichtbar zu machen.

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