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„In der DDR wäre ich nicht in der Linken gewesen“

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"In der DDR wäre ich nicht in der Linken gewesen"

Interview + Foto: Sebastian Birkl

CHRISTIAN PAULING (28) ZIEHT FÜR DIE LINKE ALS OBERBÜRGERMEISTER-KANDIDAT IN DEN KOMMUNALWAHLKAMPF – EIN GESPRÄCH ÜBER (UN)GERECHTIGKEITEN.

Rund 8 Jahre verbrachte Christian-Linus Pauling in Berlin, leistete dort seinen Zivildienst im Bereich Umweltschutz und machte seinen Abschluss an der Universität der Künste, ehe es ihn zurück in seine alte Heimat Ingolstadt zog. Im bayerischen Landtagswahlkampf 2018 arbeitete er ehrenamtlich für Spitzenkandidatin Eva Bulling-Schröter und parallel dazu im Social-Media-Bereich für die Bundestagsabgeordnete Eva Schreiber – er darf (noch) als politisches Leichtgewicht betrachtet werden. Seine großen Idole sind Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht. Rationales wissenschaftliches Denken im Dienste der Menschheit hat eine große Strahlkraft auf ihn. Aktuell arbeitet Pauling freiberuflich im digitalen Bereich und studiert Politikwissenschaften und Soziologie an der KU Eichstätt.

Christian, ist Ingolstadt überhaupt reif für einen OB der Linken? 
Es wäre zumindest ein sehr abrupter Imagewechsel der Stadt und – wenn es darum geht kreative und junge Leute anzuziehen – bestimmt auch ein Imageboost. Ich finde aber, dass sich hier viel getan hat. Als ich aus Berlin zurückkam war ich überrascht, dass sich sehr viel alternatives Milieu entwickelt hat. Das stimmt mich positiv. Ich denke, es gibt eine allgemeine Entwicklung: hin zum Umweltbewusstein, zum globalen internationalen Denken. Es ist nicht mehr so wie früher, dass man in kleineren Städten abgenabelt ist. Ingolstadt ist eine Großstadt, es gibt Internetanschluss und damit auch eine urbane Jugend.

Woran hapert‘s in Ingolstadt?
Ich glaube, ein ganz großes Problem ist die provinzielle „Korruptionsangelegenheit“. Ich möchte nicht mit dem Finger zeigen, aber es ist denke ich auch in der Bürgerschaft bekannt, dass gemauschelt wird. Es gab einen überregionalen Artikel “So funktioniert Korruption” – am Beispiel Ingolstadt (Die Ingolstadt GmbH, correctiv, Anm.). Das lässt schon tief blicken. Sachen werden in GmbHs versteckt und die Aufsichtsräte haben eine Schweigepflicht. In der heutigen Zeit – in der die Demokratie unter Beschuss steht – ist das ein Zustand, den man so nicht lassen kann. Ich möchte jetzt niemanden als korrupt bezeichnen, aber das ist natürlich ein Umfeld, das Korruption begünstigt. Ich bin der Meinung, dass man das aufarbeiten muss. Ich sehe aber nicht, dass Maßnahmen ergriffen werden, um das künftig zu verhindern.

Wie könnte es besser laufen?
Positive Beispiele sind etwa Madrid oder Barcelona. Die Kommune ist ja etwas, an der wir alle teilhaben sollten. Ursprünglich komme ich von der Piraten-Partei (als inaktives Mitglied, Anm.). Ich mag den Spirit der freien Softwareproduktion. Dort sagt man, man arbeitet am Allgemeingut. In der Softwareszene ist das ganz groß. Alle möglichen Programmierer greifen auf freie Software zurück, die irgendwer mal aus einem Ethos heraus geschrieben hat, weil er einfach seinen Beitrag zum großen Ganzen leisten wollte. So sollte das im besten Fall auch in der Kommune funktionieren. Im Sinne von: Das ist unsere Stadt und jeder kann Ideen einbringen. Das hängt nicht von der politischen Couleur ab, ob eine Idee gut oder schlecht angenommen wird. Da ist auch das Parteiensystem ein Stück weit schwierig und überholt. Wenn ich erstmal ewig in einer Partei buckeln muss, bis ich eine Idee äußern kann, ist das für die meisten jüngeren Menschen unattraktiv. Mein genereller Anspruch ist, dass sich jeder konstruktiv einbringen kann, gehört wird und die Ideen rational diskutiert werden und nicht nach “Lager”. Oftmals fehlt es schon daran, dass man eine Stimme hat. Wenn man sich auf einer Bürgerversammlung äußert, wirkt es oft als würde man den OB angreifen – und der einen dann zurück. Ich habe schon erlebt wie dort Bürger abgekanzelt wurden. Wo man dann natürlich merkt, dass das kein Umfeld ist, in dem man sich gerne einbringt.

Warum engagierst du dich gerade in der Linken? 
Wir haben die letzten 30 Jahre – seitdem auch die Vermögenssteuer abgeschafft wurde und dann v.a. mit der Agenda 2010 – eine kontinuierliche Umverteilung von unten nach oben erlebt. Das führt zu Stress in der Gesellschaft. Ich behaupte, der “Kampf gegen die Schwachen” und die Aggression gegen diese Leute durch die Regierung hallt in der Gesellschaft wider. Die aktuelle Polarisierung und der Rechtsrutsch sind auch immer Folge von solchen Tendenzen. Ich finde, leistungslos Geld zu beziehen – was durch Kapital möglich ist – führt zu einer Feudalgesellschaft. Ein Teil wohnt in überteuerten Wohnungen und arbeitet sein ganzes Leben lang, um die Miete zu bezahlen und ein anderer macht gar nichts und kriegt aus vielen Wohnungen viel Geld. Das ist eine Situation, die dürfen wir gesellschaftlich nicht zulassen. Ich wäre in der DDR nicht in der Linken gewesen, aber ich denke, dass es immer eine Frage des zeithistorischen Kontexts ist. Nach diesen 30 Jahren und bei allem, was wir als Folgen sehen, wäre es mal an der Zeit, das Ganze in die andere Richtung umzuleiten. Wenn wir 30 Jahre Rückumverteilung haben, können wir darüber reden, dann bin ich vielleicht wieder bei einer anderen Partei. Aber solange das nicht der Fall ist, werde ich mich bei der Linken engagieren. Ich glaube, dass das die Partei ist, die dabei am energischsten vorgeht.

Die Abstimmung im Stadtrat über Livestreams hast du (verbotenerweise) live ins Internet gestellt, das Rathaus mit Klebeband umspannt, um den Anstieg des Meeresspiegels zu symbolisieren. Ist Christian Pauling das “enfant terrible” der Stadt?
Nee, überhaupt nicht. Ich glaube, beides stand sehr stark im Allgemeinwohl. Natürlich war der Livestream ein Bruch und eine Herausforderung der Autorität, aber ich finde es auch eine Frechheit, die Bürger aus einem kommunalen Parlament auszuschließen. Es ist selbstverständlich für mich, dass gewählte Vertreter sichtbar sind. Zumindest das Aussperren sollten die Leute also genau sehen. Mich hat auch ein bisschen schockiert, wie abgestimmt wurde und wie die Diskussion ablief. Bei einer Gegenrede hieß es, das sei “eine Rede ohne Argument”. Dann wurde gelacht und der Antrag abgelehnt. Das finde ich beschämend, ein Hohn gegenüber der Demokratie. Es geht ja darum, nicht nur seine Mehrheit durchzusetzen, sondern sich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Das erwarte ich von allen Parteien und wenn da ein Kadergehorsam stattfindet, sollte man den Leuten zeigen, wen sie wählen. Wenn ich dabei die Konfrontation suche, ist das für mich keine Sache des Bürgerschrecks, sondern dann glaube ich, im Interesse der Bürger gehandelt zu haben.

Und bei der Klebebandaktion?
Im Klimawandel stehen die Konservativen sehr stark in der Verantwortung. Es ist schlimm, dass sich das Thema Klimawandel in Lager teilt, weil es eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist. Wenn man Verantwortungsgefühl hat – gegenüber den nachkommenden Generationen oder auch schon zu den jetzt lebenden – muss man es den Leuten erklären. Politik ist nicht nur, sich wie die Fahne im Wind zu bewegen und nur das zu machen, was die Wähler wollen. Wenn man entsprechende Einblicke hat, muss man den Leuten vermitteln, was gemacht werden muss. Bei anderen Sachen funktioniert das ganz gut: Sparen vermittelt man den Bürgern super – dass man nicht mehr für Rentner ausgeben kann und dass ÖPNV nicht gratis sein kann. In der Vermittlungen eines Umstandes, den 99% der Wissenschaftler als existenzgefährdend beschreiben allerdings… Dabei nicht entsprechend zu handeln ist ein absolutes Unding. Gerade die Konservativen haben dabei die schwierigste Aufgabe. Die Grünen und die Linken tun sich leicht, da das unser Klientel ist. Die Konservativen sind in der Verantwortung, das ihrem Wählerklientel zu vermitteln und dabei werden sie Stimmen verlieren. Aber es ist ihre Verantwortung und ich würde es ihnen hoch anrechnen, wenn sie es auch tun. Es gibt immer Zeiten, wo man nicht nur auf sich schaut, sondern wo es etwas Größeres gibt. Dabei ist immer die Frage, ob in dem Moment die Leute nicht opportunistisch sind und gegen Greta hetzen, weil sich dafür gerade Resonanz bildet. Man versündigt sich damit an der Gesamtgesellschaft. Für mich war das mit dem blauen Band ein Signal, um zu zeigen, dass wir das nicht aufschieben können. Das war eine Reaktion auf den Beschluss, dass wir eine „Klimaneutralität 2050“ anstreben. Wissenschaftler sagen aber, wir müssen 2030 hinkriegen. Wenn ich jemanden sehe, der das auf 2050 abschiebt, dann passiert ja nichts. Man muss handeln und selbst wenn wir es nicht schaffen sind wir immerhin die nächsten 10 Jahre dran zu liefern. Für mich war das ein Symbol zu sagen: das Wasser steht schon. Der Meeresspiegel ist schon angestiegen und Venedig steht schon unter Wasser. Nur weil wir hier davon noch nicht so viel mitbekommen – die Dürresommer haben manchen vielleicht aufwachen lassen – haben. Es ist ein optischer Marker, damit man es sich klarmacht. Wenn wir es nicht präsent haben, dann entscheiden wir uns nicht entsprechend. Man liest den Klimabericht und denkt sich: Scheiße, jetzt müssen wir was tun. Es gibt durch den politischen Diskurs eine Normalisierung, auch dadurch, dass immer wieder gesagt wird, man solle nicht hysterisch sein. Die Wissenschaftler sind definitiv nicht hysterisch. Es ist einfach eine krasse Krise. Das herunterzuspielen und die Leute zur Contenence zu rufen ist der falsche Kontext.

„Kostenloser ÖPNV ist eine Illusion“, sagt der ehemalige Chef der Münchner Verkehrsgesellschaft. Ist es das?
Nein. Es ist immer eine Frage der Prioritäten. Wir wissen seit Studien des Verkehrswissenschaftlers Prof. Carsten Sommer, dass Individualverkehr durch indirekte Subvention dreimal so teuer ist wie ÖPNV. Ich bin da eher noch der Realpolitischere bei den Linken. Ich sehe den kostenlosen ÖPNV ähnlich der “Offenen Grenzen” als Stoßrichtung, auf die man auf jeden Fall zufährt, es gibt aber Schritte bis dahin, die wir ausbauen müssen. Wir starten daher mit dem Bürgerbegehren um das 365 Euro Ticket. Schüler, Studenten, Azubis und Bedürftige fahren kostenfrei. Die soziale Grundmobilität ist eine Frage der Teilhabe. Im Moment ist es auch eine Frage des Umweltschutzes und der Entlastung der Straßen. Das Bürgerbegehren ist deshalb so realpolitisch formuliert, damit es mehrheitsfähig ist. Wir machen das parteilos, ohne Parteilogo. Jugendorganisationen verschiedener Parteien werden dabei sein. Dass wir parallel die Attraktivität steigern und den ÖPNV neu denken, steht nochmal auf einem ganz anderen Blatt.

Du bist in Ingolstadt wohl der bisher jüngste OB-Kandidat. Ist dein Alter eher Vor- oder Nachteil?
Ein Vorteil ist, dass man mit einem freien Blick aus der Jugendperspektive in die Politik kommt und dadurch ganz klar das fordert, was wir von der Politik erwarten. Man war noch nicht in dieser ganzen Verwaltungsmühle. Der Vorteil von Herrn Dr. Lösel: mit 20 Jahren Verwaltungerfahrung weiß er, wie der Status Quo funktioniert. Ich komme aus einer innovativen Kunstuni. Mein Vorteil ist es, dass ich weiß, wie man auf gute Ideen kommt. Im Moment brauchen wir weniger eine Verwaltung als eine innovative ideengeleitete Aufbruchsstimmung und deswegen glaube ich, dass ich in diesem Bereich besser und mehr liefern kann. Wir haben zwar nicht die Top-Chancen, aber man muss sich natürlich damit auseinandersetzen, ob man so ein Amt bekleiden könnte. Ich weiß mit Sicherheit, dass die Stimmung in der Verwaltung eine andere werden würde. Ich komme mit den Leuten da super klar. Es gibt da viele kompetente Leute, wenn man auf sie hören würde. Ich weiß auch, was ich nicht kann. Man muss nicht alles selbst machen und sollte Dinge abgeben können. Es ist eher die Frage, ob man in den richtigen Momenten die richtigen Worte trifft. Und ob man die Leute richtig einbindet. Das hat weniger mit dem Detailwissen aus der Verwaltung zu tun, sondern mehr mit menschlichem Umgang. Ich glaube, da kann ich das liefern, was man von einem Bürgermeister erwartet, nämlich alle mitzunehmen, Brücken zu bauen und eine gute und arbeitsfähige Stimmung in der Verwaltung zu schaffen.

Dein Vater Tierarzt, deine Mutter Geschäftsführerin, du im Elite-Internat Schloss Salem. Provokant gefragt: Versteht jemand, der so aufgewachsen ist, Armut?
Gregor Gysi hat einmal gesagt, man muss in der Linken nicht arm sein, sondern man muss gegen Armut sein. Ich glaube, ich habe beide Seiten gesehen – in einem sehr extremen Ausmaß. Ich war auf Salem, wo sich die Kapitalelite Deutschlands tummelt. Ich habe gesehen, wie die Leute Geld aus dem Nichts schöpfen. Im Gegenzug hatte ich aber auch hier in Deutschland Freunde, die mit sehr wenig Geld klarkommen mussten. Ich wurde von meinen Eltern so erzogen, alle Leute wertzuschätzen und zu sehen. Mir tut es weh, wenn ich Leute auf der Straße sitzen sehe. Keiner, der das macht, macht das gerne. Das sind Leute, die ganz großes Pech gehabt haben in ihrem Leben. Nicht jeder hat eine Familie oder ein Umfeld, das ihn auffängt. Das ist für mich eine soziale Frage, diese Leute aufzufangen.

Du warst auch in Katar.
Ganz extrem habe ich es gesehen – und auch erlebt was es heißt, einen Kulturschock zu haben – als ich dort ein Praktikum gemacht habe. Ich hatte sehr nahen Kontakt zu den Arbeitern. Ich habe gesehen, wie eine vollends kapitalistisch entwickelte Gesellschaft aussieht. Wo die Leute keine Rechte mehr haben, im Endeffekt moderne Sklaverei. Die Unantastbarkeit der Würde ist in unserem Grundgesetz verankert. Dort sieht man Leute wortwörtlich kriechen. Das ging mir so nahe, man kann es nicht verstehen, weil es für uns eine Frage der Würde und des Stolzes ist. In Deutschland muss keiner kriechen. Wir haben noch eine natürliche Barriere: wenn ein Chef dich scheiße behandelt, gibt es einen Punkt, wo du sagst, scheiß auf dich. Aber er ist nicht in seiner Existenz bedroht. Er muss nicht fürchten, getötet zu werden. Er muss nicht fürchten, dass seine komplette Familie festgenommen wird. Er muss nicht fürchten, ewig lange im Gefängnis zu verschwinden. Es hängt dort nicht unbedingt davon ab, etwas Schlimmes getan zu haben. Das höchste Gut, das wir hier haben ist, dass es Sicherungssysteme gibt. Bedingungslose Sicherungssysteme. Durch eine Spaltung der Vermögen bekommen wir eine Machtasymmetrie. Dadurch, dass wir Arbeitslose unter das Existenzminimum sanktionieren, bekommen wir eine Machtasymmetrie. Eine, durch die Leute plötzlich wieder kriechen müssen. Dann ist die Würde der Menschen gefährdet. Da geht es nicht um die paar Einzelnen, die faul sind, sondern da geht es um das allgemeine Machtverhältnis von den Starken gegenüber denen, die finanziell nicht so viel haben. Die einfach Pech gehabt haben. Ich habe sehr viele Leute gesehen, die sehr wenig hatten und es sehr weit gebracht haben, aber es ist viel schwieriger als wenn du in einem Umfeld wie Salem bist. Das meiste, wofür man dort zahlt, ist das Netzwerk. Ich bin sehr dankbar, dass ich beides gesehen habe. Ich will mir nicht anmaßen, die Entwürdigung nachempfinden zu können, die man hat, wenn man Flaschen aus dem Mülleimer ziehen muss.

Dein 2. Name ist Linus, benannt nach Linus Pauling. Er gewann den Chemie- und den Friedensnobelpreis. Obwohl du ihn nie getroffen hast: Was bedeutet dir die Verwandtschaft zu ihm?
Im Chemieunterricht wurde ich immer daran gemessen, was nicht unbedingt vorteilhaft für mich war (lacht). Für mich war er aber immer ein Leitbild. Er arbeitete in der Wissenschaft, setzte sich für das Allgemeinwohl und den Frieden ein. Er war mir immer ein Vorbild in Sachen Ethos. Also sich für das Gute einzusetzen und zwar in dem Sinne, die Wissenschaft für die Menschheit einzusetzen. Ich bin ein ganz großer Fan unserer westlichen Zivilisation, von unserem wissenschaftlichen Denken und unserer Reflexion. In der Diskussion um die Leitkultur war es für mich immer unverständlich, warum wir das nicht als Leitkultur heranziehen und stattdessen Kreuze aufhängen, um dem Islam etwas “entgegenzusetzen”. Für mich ein absolutes Unding. In meinen Augen hat uns die kritische Reflexion weitergebracht. Macht kritisch zu hinterfragen. Wissens- und Wahrheitsproduktion zu hinterfragen. Zu Objektivieren. Das ist etwas, das zur Zeit stark unter Beschuss steht – auch teilweise durch Politiker. Wissenschaftliches Denken finde ich sehr ehrenwert und hat eine große Strahlkraft auf mich.

Politiker sehen sich immer wieder mit (Mord)Drohungen und Beleidigungen konfrontiert. Viele Fälle wurden in den letzten Wochen und Monaten publik gemacht, darunter z.B. von Katharina Schulze. Persönliche Erfahrungen?
Bedroht wurde ich nie, beleidigt schon. So ein bisschen Beleidigung muss man denke ich aushalten. Bei Katharina Schulze nimmt das Ausmaße an, die übel sind. Gefährlich ist psychischer Terror als politische Waffe. Wenn man bei Katharina Schulze auf Facebook schaut, findet man Hasspostings mit über 100 Likes. Es gibt einen richtigen Mob, der sie im Internet verfolgt und systematisch beleidigt. Der Großteil der Leute, die sich in der Politik engagieren, tun das, weil sie etwas zum Allgemeinwohl beitragen möchten. Diese Leute dann systematisch fertig zu machen und Leute aus der Zivilgesellschaft systematisch anzugreifen sind Vorgänge, die wir sehr kritisch beobachten müssen. Eine Demokratie fußt auch immer auf seiner Zivilgesellschaft und auf dem Engagement der Bürger. Wenn das nicht mehr möglich ist, weil die einzelnen Leute es nicht mehr aushalten sich zu engagieren, dann kommen wir in ganz gefährliches Fahrwasser. Dann fallen unsere Barrieren und Grenzen gegenüber Faschismus und Barbarei. Dabei ist es schwierig zu handeln ohne die Meinungsfreiheit einzuschränken und man muss sich überlegen, welche technischen Möglichkeiten sinnvoll sind – und was man auch einfach aushalten muss. Man muss aufpassen, dass man keine Situation kriegt, in der Hatespeech instrumentalisiert wird. Das ist etwas, das wir in den Unis in Amerika merken, wo jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird und man im Endeffekt ein Machtwerkzeug schafft, das auf der anderen Seite wiederum Meinungsfreiheit einschränkt. Der “Ansatz des gutmütigen Verstehens” besagt, dass man den anderen wohlwollend und bestmöglich versucht zu verstehen und ihm nicht in jedem Wort Rassismus und Diskriminierung unterstellt. Auf der anderen Seite muss es natürlich möglich sein klar zu benennen, wenn jemand etwas rassistisches oder diskriminierendes sagt. Das auszuhandeln und zu differenzieren ist eine gesellschaftlich große Aufgabe.

Die Organisation “Ärzte der Welt” zog sich vor kurzem aus dem Ankerzentrum zurück. Unter den dortigen Bedingungen sei eine erfolgreiche Behandlung nicht möglich. Was hältst du von diesem Schritt?
Allgemein herrscht derzeit eine sehr prekäre Situation für Menschen in sozialen Berufen. Diese Leute haben diese Berufe gewählt, weil sie Empathie und ein soziales Gewissen haben. Sie werden im Moment mit Umständen konfrontiert, bei denen sie selbst merken, dass sie nicht helfen können. Sie sehen Elend und unhaltbare Zustände. Es ist Quälerei, empathische Leute einer solchen Situation auszusetzen. Ich kann den Schritt absolut nachvollziehen. Da geht es auch um die eigene psychische Gesundheit. Es ist schlimm, dass die Politik Rahmenbedingungen zulässt und Leute in diese Bereiche schickt. Man hat die Flüchtlingskrise teilweise auf die Ehrenamtlichen outgesourct. Jetzt werden ehrenamtliche Helfer ganz ausgeschlossen, die die Situation stark verbessern könnten. Warum haben Vereine und dergleichen keine Zutrittsrechte? Warum kann ich als Kandidat der Linken mir das dort nicht anschauen und mit den Leuten reden. Da muss man sich Fragen stellen. Es ist auch eine Frage der Integration, dass wir diese Leute abholen können – im wahrsten Sinne des Wortes. Wie sollen sie denn jetzt den Anschluss finden, wenn sie rauskommen? Es wäre schön, wenn man dort als sozial Engagierter reingehen könnte. Man sollte jetzt nicht die Schuld auf die Ärzte abschieben und sagen: ihr helft nicht mehr. Man sollte auf die Politik zeigen und fragen: wie könnt ihr solche Zustände zulassen?

Auch die Abschiebehaftanstalt in Eichstätt steht in der Kritik.
Ich war dort mit einer Delegation von Bundestagsabgeordneten. Man sperrt dort Leute ein und sammelt sie auf Hort. Man schiebt sie nicht einzeln ab, weil das zu teuer wäre, sondern wartet, bis der Flieger voll ist. Das heißt die Leute sind teilweise 2-3 Monate eingesperrt. Ihnen wurde das Handy abgenommen, dadurch haben sie kein Internet. Man darf zwar telefonieren, aber es sind zwei Paar Schuhe, ob man telefonieren darf oder ein internetfähiges Handy hat. Wenn mir jemand mein Handy wegnimmt, nimmt er mir den Zugang zur Welt weg. Diese Leute sind keine Kriminellen. Mit uns haben sie über ihre Situation gesprochen, sie wissen nicht, wo ihre Familien sind. Also sagen sie: dann schiebt mich ab, aber schiebt mich ab! Sie müssen arbeiten, weil sie zum Teil die einzigen in der Familie sind, die Englisch können. Sie schauen dir in die Augen und sagen: Ich habe auch Rechte und durch meine Adern fließt doch das gleiche Blut. Sie sagen: Hilf uns, dass wir aus dieser Situation rauskommen. Das ist dann eine bittere Situation. Das ist auch etwas, das im Alltag ausblasst. Aber man merkt, dass das Zustände sind, die man eigentlich mit unseren Rechtsstaat nicht zulassen darf. Diese Leute werden entrechtet. Du kannst keinen einsperren, dann sollen sie – wenn sie sie wirklich abschieben wollen – direkt abschieben. Das muss man sich dann leisten. Eine Frage von Grundrechten. Das haben wir mitten in unseren Herzen unserer Städte – in Eichstätt. Aber es ist auch gut, dass es mitten im Herzen der Stadt ist, denn dadurch sieht man es. Dadurch ist man damit konfrontiert. Es ist schlimm, dass wir wieder solche Lager haben. Auch wenn sie dort nicht umgebracht werden, entrechtet werden sie allemal. Sie werden dort in Gefängniskleidung gesteckt, das ist eine Form von Entindividualisierung und Entrechung, die nicht in Ordnung geht. Die ganze Flüchtlingsthematik ist eine große Aufgabe und man muss richtig Geld in die Hand nehmen, damit die Leute gut integriert werden. Sonst haben wir in 20 Jahren wirkliche Probleme. Man wird es nicht dadurch regeln, die Leute jahrelang in Lager gesperrt zu haben.

Wie steht die Linke zum Thema zentrale vs. dezentrale Unterkünfte für Geflüchtete?
Die konkrete Meinung der Partei dazu kenne ich nicht. Dazu gibt auch innerhalb der Partei verschiedene Stimmen. Ich glaube, dass man so schnell wie möglich eine dezentrale Unterbringung forcieren muss. Klar gibt es Effizienzgewinne bei der Registrierung. Es ist auch etwas anderes, ein paar Wochen oder monatelang dort zu sein. Natürlich haben wir dann das Problem, dass durch die dezentrale Unterbringung die Wohnraumkonkurrenz steigt. Aber dann muss man dort eben Geld in die Hand nehmen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir haben ja auch richtig verdient daran, dass wir diese Länder ausbeuten und haben an den Kriegen verdient. Man muss den Leuten auch klarmachen, dass es nicht ok ist, die Profite einzufahren für den Abbau von Seltenen Erden oder den Verkauf von Waffen und dann die Wohlhabenden und Vermögenden, die damit Geld gemacht haben aus der Verantwortung zu lassen. Es ist nicht in Ordnung, dass wir hier überhaupt eine Konkurrenzsituation kriegen. Es hätte eine zweckgebundene Vermögenssteuer geben müssen. Mit der hätte man den Wohnraum für dezentrale Unterbringungen schaffen müssen. Dann wäre die Situation gar nicht gekommen, dass die Schwachen gegen die noch Schwächeren kämpfen. Man hetzt die Leute teilweisen gegeneinander auf und lenkt dabei den Blick von den Leuten weg, die eigentlich daran verdient haben. Das muss man den Leuten erstmal klarmachen. Eigentum kommt mit Verpflichtung.

Deine erste Tat als Oberbürgermeister?
Die Einführung einer Zweckentfremdungssatzung. Die hier leerstehenden Gewerbeimmobilien sind entgangene Steuereinnahmen. Das ist für mich ein Punkt, bei dem man mit der Satzung angreift. Für den Leerstand von Wohnraum gibt’s eine Zweckentfremdungssatzung – wenn die Immobilien nicht vermietet werden – und zwar in dem Maße, in dem der Stadt Steuereinnahmen entgehen. Natürlich nicht sofort, sondern mit Schonfrist. Man braucht natürlich seine Zeit, bis man seine Immobilie vermietet. Aber wenn man anfängt Grundstücke – also die Substanz unserer Stadt – verkommen zu lassen… Die Leute, die so viel haben, müssen in die Verantwortung genommen werden. Es geht nicht darum, irgendjemanden etwas wegzunehmen, sondern darum, die Fläche, die wir haben, zu nutzen. Da haben wir ein Interesse als Stadt und ich denke dieses Interesse kann man auch durchsetzen.

Welche Hobbys hast du abseits der Politik?
Im Moment gehe ich Pumpen im Pius (lacht).

Für den Wahlkampf?
Ja, genau. Man muss ja auch vital aussehen und kräftig sein (lacht). Ich höre auch viele Podcasts. Das ist die Hauptquelle, woraus ich meine politischen Informationen ziehe. Da gibt es wirklich tolle Sachen, z.B. von führenden Stadtplanern. Das ist nochmal eine ganz andere Qualität an Content, die im Internet existiert. Ansonsten spiele ich sehr gerne Beachvolleyball. Ich bin ein umtriebiger Mensch.

Kurzgefasst: OB-Kandidat Christian Pauling (Die Linke)

Politiker reden viel – und gerne. Ob das auch kürzer geht? Jeder Ingolstädter OB-Kandidat durfte in einem selbstgedrehten „Wahlwerbespot“ folgende Frage für espresso beantworten: Warum sollte man Sie wählen? Einzige Vorgabe: Das Video darf nicht länger als 60 Sekunden dauern. Wer Christian Pauling von den Linken wählt, braucht Mut. Das sagt er selbst. Nur die mutigsten der Mutigen schauen sich daher die kompletten 59 Sekunden seines Spots an!

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